Herr Prof. Rettich, Sie haben die 14 Projekte für die Gröpelinger Freiräume konzipiert. Was ist Ihnen in Gröpelingen besonders aufgefallen?
Gröpelingen hat einen hohen Erneuerungsbedarf: Es gibt viele Orte im öffentlichen Raum, die in einem sehr schlechten Zustand sind und von den Menschen auch nicht besonders sorgsam genutzt werden – beides bedingt sich gegenseitig.
Auf der anderen Seite verfügt der Stadtteil über viele Potentiale und gerade auch „Freiräume“, der Grünzug mittendrin beispielsweise oder die angrenzenden Gebiete um Weser und Blockland.
Weser und Blockland spielen nun auch eine Rolle im ersten realisierten Teilprojekt…
…den „grün-blauen Wegen“, genau. Uns ist aufgefallen, dass Gröpelingen sich eigentlich durch eine hervorragende Lage zwischen diesen beiden Erholungsgebieten auszeichnet, dieses Potential sich jedoch aufgrund unklarer Wegebeziehungen nicht einlöst. Deshalb haben wir ein neues Wegeleitsystem entwickelt: Ein grafischer Wegweiser, der den Weg zu Blockland und Weser weist, wird an hochfrequentierten Orten der Ost-West-Achse aufgesprüht. Wichtig ist uns dabei, dem Stadtteil keinen neuen Schilderwald überzustülpen, ihn also nicht zu „übermöblieren“. Stattdessen nutzen wir bereits bestehende Infrastruktureinheiten: Objekte wie Stromkästen fungieren als Träger der Wegweiser.
Die Wegweiser erinnern an die so genannten „stencils“, Schablonengraffiti, die allgegenwärtig in Städten sind – ist das ein bewusstes Nutzen von urbaner Alltagskommunikation?
Ja, denn es ist nicht in unserem Sinne, den Stadtteil künstlich schick zu machen oder ihm einfach eine neue Jacke anzuziehen. Gröpelingen verfügt über einen gewissen spröden Charme, das ist etwas positives und soll auch erhalten bleiben.
Bei allen Teilprojekten verfahren wir übrigens immer auf die gleiche Weise: Wir schauen uns an, was es schon gibt an guten Ideen und Ansätzen und versuchen, diese zu verstärken – eine „Guerilla-Strategie“ sozusagen.
Welche Rolle spielt dabei die Partizipation der Akteure im Stadtteil?
Partizipation ist ein elementarer Bestandteil der Freiräume! Die „mobilen Gärten“ für die Schulen wurden zum Beispiel in gemeinsamen Workshops nach individuellen Gestaltungswünschen und –bedürfnissen entworfen. Beim „Markttest“, der im Dezember startet, werden Geschäftsleute und Anwohner ausprobieren, ob sich der zentrale, aber untergenutzte Ohlenhofplatz als Marktplatz nutzen lässt. Wir verstehen Raum als ein ständiges Herstellen und Ordnen von Beziehungen und das bedeutet eben, dass die Menschen vor Ort selbst die Räume im Stadtteil herstellen. Deshalb wollen wir ihnen Anregungen zur Wiederaneignung ihres Stadtteils geben. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Grünzug – eigentlich ein hochwertiger Erholungsraum mitten in der Stadt, aber durch Vermüllung und Hundekot vielerorts nicht nutzbar. Kultur vor Ort hat beobachtet, dass viele Menschen auf den Wiesen Fallobst sammeln und Beeren pflücken. Das hat uns auf die Idee gebracht, Obstbäume und Beerensträucher zu pflanzen, so dass viele Anwohner die Früchte gemeinsam ernten und verwerten können und somit die Wiesen wiederbeleben. Das kann zu einem bewussteren Umgang mit diesem Stück Natur in der Stadt und auch zu mehr Kommunikation der Menschen untereinander führen.
Sind die vielen einzelnen Projekte insgesamt nicht sehr aufwendig? Was, wenn sie nicht angenommen werden?
Alle Teilprojekte sind so konzipiert, dass sie erst einmal in kleiner und nicht kostenaufwendiger Form starten und dann, wenn sie gut funktionieren, von den Akteuren und Anwohnern weiterentwickelt werden können. Die mobilen Gärten zum Beispiel lassen sich einfach durch weitere Teile vergrößern. Das Ausprobieren aller Mikroprojekte ist aber eine sehr wichtige Phase, nur das zeigt, ob etwas funktioniert. Wenn nicht, dann wird dieses Projekt eben nicht weitergeführt.
Die Teilprojekte sind ja durchaus unterschiedlich – gibt es denn eine Klammer für alle?
Ja! Damit die Projekte auch als größeres Ganzes wahrgenommen werden, haben wir uns für eine wiedererkennbare formale Klammer entschieden, und zwar die Form des Tangrams, die aus mehreren zusammengesetzten geometrischen Elementen besteht. Sie findet sich in den Schulgärten, in den Obstbaum-Clustern, in den Gestaltungselementen im Grünzug –und auch in den Lichtflächen, die durch lichtreflektierenden Beton die Helligkeit von Straßenlaternen verstärken und damit dunkle Wegezonen aufwerten. Das Tangram steht für das modulare Grundprinzip, auf dem die Projekte basieren und mittels dessen sie von den Akteuren individuell bausteinartig weiterentwickelt werden können.
Gibt es Schwierigkeiten, auf die Sie bei der Realisierung der Ideen stoßen?
Versteht man öffentlichen Raum als Aushandlungs- und Herstellungsprozess, wird schnell klar, dass er von hoher Heterogenität geprägt ist. Es gibt sehr viele Akteure, auch private, mit unterschiedlichen Interessen – allein für die grün-blauen Wegweiser mussten wir mit fast zehn verschiedenen Eigentümern von Stromkästen verhandeln. Das kostet durchaus einen langen Atem und manchmal auch Überzeugungsarbeit.
Einige Ihrer Ideen und Konzepte sind in einem Themenspeicher für das kommende Jahr abgelegt. Was ist Ihre Empfehlung für den Stadtteil, was sollte dringend verwirklicht werden?
Eine hochwertige Gestaltung des Ohlenhofplatzes und der Gröpelinger Heerstraße im Bereich Lindenhofstraße, eigentlich ja das urbane Herzstück Gröpelingens, ist nötig. Ein Boulevard könnte hier zu einer sozialen und ökonomischen Aufwertung führen und Trading-Down-Prozessen entgegenwirken. Als dringlich sehe ich aber auch die Aufwertung der Unterführungen entlang des Kleingartenweges an. Sie sind wichtige Durchgangswege zwischen dem Ortsteil Ohlendorf und dem Blockland, bilden jedoch aufgrund ihrer Unwirtlichkeit und Unterbeleuchtung eher Angsträume. Durch weiße fluoreszierende Farbe an den Innenwänden könnte diese Situation schon erheblich verbessert werden.
Letztlich geht es darum, auf mehreren Ebenen Verbindungen zu stärken und zu ermöglichen – Verbindungen zwischen dem Stadtteil und den angrenzenden Gebieten, Verbindungen zwischen Menschen und Natur und Verbindungen der Menschen mit ihrem Stadtteil. Die grün-blauen Wege, mit denen das Projekt jetzt losgeht, zeigen, in welche Richtung es geht.
Stefan Rettich (*1968) ist Architekt und lebt in Hamburg. Seit 2011 ist er Professor für Theorie und Entwerfen an der Hochschule Bremen, zuvor lehrte er vier Jahre am Bauhaus Kolleg in Dessau. Mit seinem Büro KARO* wurde Rettich mit dem renommierten European Price for Urban Public Space ausgezeichnet und zu verschiedenen internationalen Ausstellungen eingeladen, u.a. zur XI. und zur XII. Architektur Biennale in Venedig.